Handgeschneidert

Besuch von drei Schneiderateliers

Feine Abendkleider für Adlige und Nicht-Adlige, Maßanzüge für Herren mit Idealmaßen oder mit Problemfiguren, Röcke, Hosen und Mäntel – zu lang, zu weit oder durchgescheuert. Das Schneiderhandwerk hat Konjunktur und setzt mit seinen Qualitätsansprüchen in Sachen Individualität und Nachhaltigkeit einen Kontrapunkt zur industriellen Billigproduktion.
REPORT hat drei Schneiderateliers besucht, die zeigen, wie gefragt die Arbeit mit Nadel und Faden wieder ist.
 Neuanfang in Wurmberg: Abdulkarim al Daghli und Ehefrau Hanifa.

„Man kann es sich heute gar nicht mehr vorstellen, keinen Schneider vor Ort zu haben“, sagt eine Kundin, eine Hose zum Kürzen in der Hand. Seit drei Jahren hat Wurmberg im Enzkreis eine Änderungsschneiderei. Hinter der Theke in dem kleinen Laden grüßen Abdulkarim al Daghli und seine Frau Hanifa mit einem herzlichen Lächeln. Um sie herum aufgetrennte Hosenbeine, abgesteckte Revers, feine Abendkleider und an der Wand: Garnrollen in allen Farben.

Mit vier Kindern und einem Koffer mit dem Nötigsten kamen die beiden 2015 von Aleppo nach Deutschland. Die Metropole ist als Hochburg des syrischen Schneiderhandwerks bekannt und trägt deshalb den Beinamen „Klein-China“. In Syrien hatte Schneidermeister Abdulkarim al Daghli ein eigenes Geschäft. Dann kam der Krieg. Fünf Monate lebte die Flüchtlingsfamilie im Container in Wurmberg.

In der idyllischen Gemeinde hat die Familie dann einen mutigen Neuanfang gewagt. „Da es in unserer 3.000-Einwohner-Gemeinde noch keinen Schneider gab, haben wir Herrn al Daghli darin unterstützt, eine kleine Schneiderei zu eröffnen“, erzählt Bruno Söhnle von der Flüchtlingsbetreuung, der die beiden regelmäßig besucht. 

„Bei der Unterstützung für die Flüchtlinge geht es allerdings um weit mehr als nur um das Ausfüllen von Fragebögen für das Landratsamt“, ergänzt Söhnle. „Unser Ziel mit den Flüchtlingen war immer: Wie kriegen wir diese Menschen so schnell wie möglich in Arbeit? Nur das ist schließlich gelungene Integration“, ist Söhnle überzeugt. Bei der Flüchtlingsfamilie ist er als „Opa Bruno“ bekannt.

Die Auftragslage des Syrers ist beachtlich. Die Kleiderständer sind randvoll, die Regale auch. Die Ladentür geht ständig auf und zu. Al Daghli ist ein Alleskönner: Er kann Änderungen, Maßschneidearbeiten und Bügeldienste anbieten, Ehefrau Hanifa macht kunstvolle Handstickereien.

„Die große Frage war, ob das auch angenommen wird“, erzählt Reinhard Blasius, der ebenfalls in der Flüchtlingshilfe in Wurmberg tätig ist. „Kleidung ist schließlich etwas ganz Persönliches.“ Doch das ist längst keine Frage mehr – die Idee hat gezündet. „Der Erfolg ist phänomenal“, sagt Blasius. Mittlerweile ist die Familie in Wurmberg voll integriert. Bis die ersten Kunden kamen, hat es allerdings etwas gedauert, viele waren skeptisch. „Der Anfang war nicht ganz einfach“, bestätigt Hanifa. Sie hat Deutschkurse bis zum Sprachniveau B2 absolviert. „Aber es ist wichtig, dass man Deutsch lernt, und dann auch drauflos spricht. Viele Flüchtlinge haben einfach Angst zu sprechen.“

Auf der Höhe der Zeit

Eine ganz andere Geschichte brachte René Alexander Oehler zur selbstständigen Schneiderei. Der Schneidermeister und Modedesigner aus der Karlsruher Oststadt bekam vor zehn Jahren eine Anfrage von einer Gräfin, ob er für sie Abendkleider anfertigen könne. Das war der Startschuss für sein eigenes Atelier.

Heute kommen vorwiegend weibliche Kunden – Künstlerinnen, Musikerinnen und auch stilbewusste Normalbürgerinnen aus dem In- und Ausland zu dem Designer, um sich von ihm schöne Kleidungsstücke anfertigen zu lassen. Dabei prangt kein mondäner Schriftzug an seiner Tür. Umso exquisiter sind die Ergebnisse seiner Nähkunst: In seinem Atelier entsteht luxuriöseste Couture aus hochwertigen Materialien, die er aus England, Deutschland und Italien bezieht. Sogar Accessoires kreiert der umtriebige Designer auf Wunsch zu seinen Kreationen.

Oehler näht, seit er zwölf Jahre alt ist. An die Schneiderlehre hängt er ein Designstudium in Stuttgart dran, sammelt wertvolle Erfahrungen in Unternehmen der Joop-Gruppe. Was hat sich im Schneiderhandwerk eigentlich in den letzten Jahren verändert? „Eine Nähmaschine funktioniert immer noch nach dem gleichen Prinzip wie früher, aber eine Vielzahl an Spezialmaschinen und Elektronik haben auch im Handwerk zugenommen. Wer heute mit der Zeit gehen will, der kommt an einem modernen Equipment nicht vorbei“, findet er. „Und dabei meine ich nicht nur die Nähmaschine, sondern zum Beispiel auch ein Computerprogramm zum Erstellen von Schnitten und Lagenbildern sowie Plotter zum Ausdrucken. Das alles erleichert die tägliche Arbeit ungemein.“

„Wer heute mit der Zeit gehen will, der kommt an einem modernen Equipment nicht vorbei“

Schneidermeister und Modedesigner René Alexander Oehler.

Zwölf Jahre Berufserfahrung in der Industrie verschafften ihm zusätzliches Know-how in Schnittkonstruktion und Verarbeitungstechniken. Kein Wunder also, dass er modernste Technik nutzt. „Die Kunst besteht darin, das alte, faszinierende Handwerk mit innovativer Technik zu kombinieren“, davon ist Oehler überzeugt. Dabei ist das Nähen kein schnelles Geschäft. „Vom Maßnehmen zum Schnitt und dann bis zum fertigen Modell kommen schon mal locker 30 bis 50 und mehr Stunden zusammen“, sagt Oehler. „Da steckt richtig viel Arbeit drin.“ An Aufträgen mangelt es ihm nicht. Im Gegenteil, eine zusätzliche Näherin braucht er mindestens, um die Kundenaufträge zu bewerkstelligen. Darunter auch lässige Mode für jeden Tag. Eine coole Lederjacke im Bikerstil ist gerade fertig geworden.

„Zwar kaufen immer noch viel zu viele Leute Kleidung von der Stange – Made in Fernost, wo Menschen unter schlimmsten Bedingungen arbeiten. Aber so langsam kommt es in den Köpfen der Kunden an, dass Individualität und Nachhaltigkeit eben doch wichtig sind. Und dann greifen sie lieber zu einem Kleidungsstück, an dem sie auch lange Freude haben, weil es ihnen auf den Leib geschnitten ist.“

René Alexander Oehler liebt seinen Beruf. Jedes Stück entsteht mit Hingabe. Was er jungen Menschen rät, die eine Schneiderlehre anpeilen? „Handwerkliches und kreatives Geschick, Mut und Durchhaltevermögen gehören auf jeden Fall dazu, vor allem aber: die Liebe zum Beruf. Schließlich ist es nicht wie eine Bestellung im Internet. Auch der Kontakt mit den Menschen ist ungeheuer wichtig. Ich helfe meinen Kunden, ihre Persönlichkeit zu unterstreichen, gehe auf ihre Figur ein und setze mit der richtigen Linienführung Akzente.“

Quelle: YouTube

Gentleman nach Maß

„Eigentlich wollte ich Stewardess werden“, erzählt Vera Grünwald. Sie ist die einzige diplomierte Maßschneiderin für Herrenmode in Karlsruhe. Nicht nur ihr wunderschöner Arbeitsplatz in der City von Karlsruhe hat einen exquisiten Stil, auch die charmante Chefin selbst ist elegant. Und das ist in ihrem Fach durchaus von Vorteil. Denn zu ihr kommen Männer mit gehobenen Ansprüchen. Fertige und unfertige Anzüge zieren die Kleiderständer, auf einem alten stilvollen Schrank liegen Stoffmusterbücher mit feinsten Luxusstoffen, stapeln sich Schuber mit Knöpfen aus edlen Materialien. Beim Fühlen von Mohair, Leinen oder Wolle wird schnell klar: Die Welt der Stoffe ist schier unerschöpflich. Nur eins findet man unter den Stoffmustern nicht: Synthetik.

Meisterschule in Stuttgart und München, eine ganze Reihe von Schnittkursen und der Meisterpreis der Bayerischen Staatsregierung – die an der Wand hängenden Diplome verraten das professionelle Niveau der Maßschneiderin. Nicht nur die Nähtechnik, auch die Stoffe haben in den letzten Jahren einen Wandel durchgemacht. „Stoffe für Herrenanzüge waren früher viel schwerer. Heute bringen zum Beispiel Angora oder Kamelhaare viel mehr Weichheit und Leichtigkeit in den Stoff.“ Vera Grünwald arbeitet nur mit den besten Stoffherstellern. Da sind nach oben keine Grenzen gesetzt. In einem Musterbuch finden sich Stoffe mit Lapislazuli-Fragmenten oder Diamantstaub: Wer 2.000 Euro für den Meter Stoff ausgeben will, der wird hier fündig. Wenn man bedenkt, dass man für einen Anzug rund 3,5 Meter Stoff benötigt, ein stattlicher Preis.

„Das ist allerdings eher die Ausnahme“, räumt die in Bautzen geborene Schneidermeisterin ein. „Meine Anzüge sind in der Regel schon erschwinglich. Meine Kunden wissen, dass sie bei mir etwas mehr Geld ausgeben müssen. Sonst würden sie sich einen Anzug im Laden kaufen.“ Ein Maßanzug braucht Zeit und entwickelt sich. Vom Maßnehmen bis zur Abholung durchläuft das Kleidungsstück viele Phasen: Abstecken, mehrere Anproben, das Nähen selbst inklusive Futter, ein abschließendes „Feintuning“ etwa mit Knöpfen oder Stickereien und schließlich die Generalanprobe mit Hemd und Schuhen, die der Kunde mitbringt, wenn es sich zum Beispiel um einen Hochzeitsanzug handelt. „Natürlich ist ein maßgeschneiderter Anzug nicht ganz billig“, sagt Vera Grünwald. „Aber meine Kunden tragen die Anzüge viele Jahre und sind glücklich damit.“

Eine Alternative zur Maßanfertigung ist die Maßkonfektion, bei der Vera Grünwald mit Hilfe einer Software auch günstigere Modelle anbieten kann. Das heißt, sie nimmt Maß an den Herren und lässt die Anzüge dann außer Haus industriell fertigen. „In Deutschland wohlgemerkt“, darauf legt die Maßschneidern großen Wert. „Das sind auch ganz tolle Qualitäten, keine Frage. Die meisten meiner Kunden wollen allerdings den ganzen Anzug von mir genäht bekommen“, sagt sie stolz. „Sie legen großen Wert auf hundert Prozent Handarbeit.“

Vera Grünwald hat sich vor allem auf Figuren jenseits von Model- Maßen spezialisiert. „Die wenigsten Männer haben klassische Konfektionsgrößen“, erklärt sie, „fast jeder hat irgendwo eine Schwachstelle, zum Beispiel ein Rundrücken oder Hohlkreuz.“ Sie geht sogar noch weiter und bedient mit ihrer Handarbeit eine echte Nische. „Ich habe auch Kunden, die sehr dick sind oder eine Behinderung haben. Auch ältere Herren und Damen, die nicht mehr mobil sind.“ Da macht sie auch Hausbesuche. „Männer haben ja von Natur aus nicht so viele Gestaltungsmöglichkeiten wie Frauen, die sich mit Mustern, Farben und Accessoires immer wieder neu erfinden können. Ein Herrenanzug bleibt ein Herrenanzug. Deshalb kann man da nur mit echter Handarbeit und einem tollen Stoff – eventuell noch mit Stickereien und kostbaren Knöpfen – Akzente setzen.“

Die Kundschaft kommt allerdings nicht nur mit Anzugswünschen. Auch Wildleder- und Sportsakkos oder Blousons sind gefragt. Und warum ist sie dann doch nicht Stewardess geworden? „Ich habe gemerkt, dass mir Nähen sehr großen Spaß macht. Heute sehe ich es als Bestimmung an, Menschen mit Problemfiguren zu helfen. Denn auch jemand, der keine perfekte Figur hat, kann schließlich ein gut gekleideter Gentleman sein.“

Quelle: YouTube

Handwerk mit Zukunft

Hanifa al Daghli will nur noch ein paar Monate ihrem Mann in der Schneiderei helfen. Dann schaut sie sich nach einer eigenen Arbeit um und hofft auf einen Ausbildungsplatz. Gemeinsam mit „Opa Bruno“ ist sie schon auf der Suche. Bruno Söhnle kann sich gut vorstellen, dass aus dem kleinen Einmannbetrieb in ein bis zwei Jahren ein großes Atelier wird. Für Abdulkarim al Daghli würde das bedeuten, an seine Zeit in Aleppo anzuknüpfen.

„Ich möchte gerne weiter wachsen“, sagt auch Damenschneider Oehler. „Vielleicht einen Lehrling einstellen, um das Wissen weiterzugeben, und damit ich mich noch mehr auf das Kreative – eventuell eine eigene Kollektion – konzentrieren kann.“

Auch Vera Grünwald hat sich noch eine Mitarbeiterin dazu geholt, weil die Aufträge alleine gar nicht mehr zu schaffen sind. „Ich freue mich, dass immer mehr Männer zu mir kommen, darin sehe ich eine große Chance für meinen Beruf. Vielleicht ist die Figur nicht immer perfekt, aber der Anzug muss es sein“, sagt Vera Grünwald. „Die zweite Haut muss einfach sitzen.“

Maßschneider/Innen
fertigen individuelle Kleidungsstücke nach eigenen Entwürfen oder den Wünschen ihrer Kunden in Maßarbeit an.
Ausbildung: Maßschneider/in ist ein dreijähriger anerkann- ter Ausbildungsberuf im Handwerk.

Änderungsschneider/Innen
verändern und reparieren Kleidungsstücke und Heim- textilien nach Kundenwünschen.
Ausbildung: Änderungsschneider/in ist ein zweijähriger anerkannter Ausbildungsberuf in Industrie und Handwerk.

Ariane Lindemann