Erfinder, Macher, Visionäre

Karlsruhe hat weltweite Wirkung | Interview mit dem Leiter des Karlsruher Stadtmuseums, Peter Pretsch

Das Interview führte Christoph Ertz

Zwei der bedeutendsten Erfindungen der Menschheit stehen in Zusammenhang mit Karlsruhe: das Zweirad durch Karl Freiherr von Drais (1785-1851) und das Automobil durch Carl Benz (1844-1929).
Wie kam es zu dieser herausragenden Bedeutung der vergleichsweise jungen und kleinen Stadt Karlsruhe für die allgemeine Ideengeschichte?


Peter Pretsch: Das hängt mit der Lebensgeschichte dieser Erfinder zusammen. Drais, der Zweiraderfinder, ist hier aufs Gymnasium gegangen. Mit seiner Familie ist er allerdings dann nach Mannheim umgezogen, sein Vater war dort Präsident des Oberhofgerichts. Und in Mannheim machte er seine epochale Erfindung. Dort stellte er erstmals 1817 die Laufmaschine vor, die der Prototyp unseres heutigen Fahrrades ist. Aber er zeigte das legendäre Zweirad auch andernorts, etwa bei Wettfahrten mit Postkutschen. So war er auch wieder in Karlsruhe, indem er von hier aus nach Kehl gefahren ist. Unter anderem weil die politische Obrigkeit seine bei den damals aufrührerischen Studenten beliebte Erfindung einzuschränken versuchte, konnte sich der Erfinder Drais allerdings nie so recht durchsetzen. 1822 wanderte er nach Brasilien aus, kam aber fünf Jahre später wieder zurück und ab 1845 lebte er wieder in Karlsruhe. Bei Carl Benz ist der Zusammenhang von Karlsruhe, Erfinder und Erfindung aber sicher enger, auch wenn auch Benz seine eigentliche Erfindung in Mannheim machte.

Inwiefern?

Pretsch: Im Gegensatz zu Drais wuchs er aber in armen Verhältnissen auf. Sein Vater starb 1846 an einer Lungenentzündung. Die hatte er sich als Lokomotivführer zugezogen, die damals noch aus einem offenen Stand gefahren wurden. Die Witwe musste mit einer ganz kleinen Rente die Familie ernähren. Dass Benz unter anderem mit Hilfe eines kleinen Stipendiums überhaupt an der polytechnischen Schule, die als eine der ersten ihrer Art im deutschsprachigen Raum 1825 gegründet worden war, in Karlsruhe Maschinenbau studieren konnte, grenzt an ein Wunder. Und wenn es den Lehrgang Maschinenbau am Polytechnikum nicht gegeben hätte, dann wäre er vermutlich nicht zu seiner Erfindung des Automobils gekommen. Die Ausbildung in Karlsruhe hat also wesentlich zur Erfindung des Automobils beigetragen. Und später gab es auch bei Benz immer wieder Verbindungen in die Fächerstadt. Die Aufsehen erregende erste Fernfahrt mit dem Automobil, die Bertha Benz 1886 mit ihren beiden Söhnen ohne Wissen ihres Mannes von Mannheim nach Pforzheim unternahm, führte auch durch den heutigen Karlsruher Stadtteil Grötzingen. Und 1898 gründete Ernst Schoemperlen in Karlsruhe das vermutlich erste Autohaus der Welt. Dort wurden Wagen aus der Benz- Fertigung vertrieben.

"Bis in die heutige Zeit kamen und kommen bedeutende technische Leistungen aus Karlsruhe, vorangetrieben durch viele Erfinder, die nicht ganz so im Bewusstsein der Öffentlichkeit stehen."

Den Titel „Erfinderstadt“ kann Karlsruhe somit sicher schon wegen Drais und Benz zu Recht beanspruchen. Welche anderen technischen Visionäre haben noch wesentlich dazu beigetragen?

Pretsch: Ganz klar Heinrich Hertz (1857-1894), der hier 1886 die elektromagnetischen Wellen entdeckte, auf denen die moderne Kommunikation auf baut. Stellvertretend für viele weitere möchte ich noch Emil Keßler (1813 1867) und Robert Gerwig (1820-1885) hervorheben. Keßler eröffnete 1836 die erste Maschinenfabrik Karlsruhes, aus der 1841 die erste badische Lokomotive in Eigenkonstruktion entstand. Und Gerwig konstruierte das erste Wasserwerk Karlsruhes, aus dem ab circa 1870 die Hausanschlüsse in den Wohnhäusern gespeist wurden. 

Bis dahin mussten die Leute ihr Wasser noch vom Brunnen holen. Gerwig hat zudem unter anderem auch noch die Schwarzwaldbahn und die Gotthardbahn in der Schweiz geplant. Aber bis in die heutige Zeit kamen und kommen bedeutende technische Leistungen aus Karlsruhe, vorangetrieben durch viele Erfinder, die nicht ganz so im Bewusstsein der Öffentlichkeit stehen. Im Stadtmuseum zeigen wir beispielsweise einen Pipeline-Molch. Der kann per Infrarotstrahlung Schäden in Öl- und Gasleitungen feststellen. Er wurde im Forschungszentrum Karlsruhe entwickelt und war weltweit erfolgreich. Vieles, was in Karlsruhe erforscht und erfunden wurde und wird, hatte und hat weltweite Auswirkungen.

Aber bis die wirtschaftliche Entwicklung Karlsruhes nach der Gründung 1715 so richtig an Fahrt aufnahm, verging einige Zeit.

Pretsch: Das ist richtig. 1718, drei Jahre nach Stadtgründung, hatte Karlsruhe 2.000 Einwohner. Lange waren die wirtschaftlichen Aktivitäten total abhängig vom Hof. Im 18. Jahrhundert war die Stadt ohne die markgräfliche Hofhaltung gar nicht lebensfähig – fast alle Handwerker waren für den Hof tätig. Aber im 19. Jahrhundert änderte sich das. Erst entstand ein Bürgertum, dann kamen die Arbeiter dazu. Die Industrialisierung brachte einen regelrechten Schub.

Wie kam das?

Pretsch: Besonders bedeutsam war die Eisenbahn im 19. Jahrhundert. Zwischen 1838 und 1863 entstand die Strecke der so genannten Badischen Hauptbahn von Mannheim über Basel nach Konstanz. 1843 wurde der Karlsruher Bahnhof eröffnet. Die Eisenbahn hat beispielsweise dazu geführt, dass die Südstadt gebaut wurde, die man lange als Eisenbahner-Stadtteil bezeichnet hat, weil dort die Arbeiter und Angestellten der Eisenbahn lebten. Nach der Reichsgründung 1871 setzte die Entwicklung Karlsruhes zur Industriestadt ein, unter anderem auch weil mit Elsass und Lothringen nach dem deutsch-französischen Krieg bedeutende Absatzmärkte hinzugekommen waren.

Hatte das auch Auswirkungen bis in die umgebende Region hinein?

Pretsch: Das ist ein wichtiger Aspekt. Karlsruhe hatte ein Umland mit vielen Dörfern. Die Bauern von dort haben in der Industrialisierung angefangen, in der Karlsruher Industrie zu arbeiten, etwa in den Nähmaschinenfabriken. Aber sie behielten noch ihre Landwirtschaft als Nebenerwerb und hatten dadurch ein relativ gutes Auskommen. Man sprach von so genannten Arbeiterbauern. Damit zusammen hängt auch die Verkehrsentwicklung wie die Dampfbahn nach Durlach und die Albtalbahn, um die Arbeiter besser in die Stadt bringen zu können.
Wichtig für die Karlsruher Entwicklung: der 1843 eröffnete Hauptbahnhof.

"Wenn man sich ansieht, was Karlsruhe auch im kulturellen Bereich alles zu bieten hat, so geht das unmittelbar darauf zurück, dass Baden bis 1871 ein eigenständiger Staat war und das Herrscherhaus alle auch kulturell wichtigen Funktionen in seiner Residenzstadt haben wollte."

Welche bedeutenden Unternehmerpersönlichkeiten wirkten in Karlsruhe?

Pretsch: In der jüngeren Zeit dm-Gründer Götz Werner und Hugo Mann (1913-2008), der 1970 in Karlsruhe den ersten Mann Mobilia eröffnete. Es gab mal eine Liste, in der wurde Mann unter den zehn reichsten Deutschen geführt. Karl Junker und August Ruh gründeten 1870 die Nähmaschinen- und Gasherdfabrikation Junker und Ruh, die zeitweise bis zu 1.300 Beschäftigte hatte. Ähnlich bedeutsam war die Nähmaschinenfabrik Haid & Neu von Georg Haid und Carl Wilhelm Neu ab 1860. 1907 verließ die millionste Nähmaschine das Werk. Heute ist eine Karlsruher Straße nach Haid und Neu benannt. Auch Friedrich Hoepfner, der
Ende des 19. Jahrhunderts die große Brauerei bauen ließ, ist zu nennen – und noch viele mehr. 

Gab es auch Zeiten, in denen es Karlsruhe richtig schlecht ging?

Pretsch: Nach den beiden Weltkriegen. Von 57.000 Wohnungen blieben im Zweiten Weltkrieg nur 11.000 unbeschädigt und die Innenstadt war zu 50 Prozent zerstört. Aber schon 1948 wurde Karlsruhe zur am besten aufgeräumten Stadt erklärt und unter anderem gefördert durch den Marshall-Plan ging es rasch wieder aufwärts. Schwere Zeiten gab es auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals kam es zu regelrechten Hungerkrisen durch Missernten und auch zu großen Auswanderungen aus Baden, einmal wegen der Missernten, aber auch wegen der politischen Entwicklungen nach der Niederschlagung der Revolution von 1848/49. Aber auch schon vor der Stadtgründung war es sehr kritisch in der Region durch die Kriege mit Frankreich. Nicht nur das Heidelberger Schloss ist damals zerstört, sondern auch Durlach bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden.

Peter Pretsch ist ist Leiter des Karlsruher Stadtmuseums im Prinz Max-Palais

Wenn man die 300 Jahre Karlsruhe zusammenfassend betrachtet, welche Besonderheiten aus der Geschichte wirken bis heute?

Pretsch: Man hat sich hier in den wissenschaftlichen Bereichen schon von Anfang an mehr auf Technik konzentriert als beispielsweise in Heidelberg oder Freiburg, wo die Geisteswissenschaften bis heute eine viel größere Rolle spielen. Diese Entwicklung ist sicher auch den großen Erfindern Karlsruhes und der frühen Gründung des heutigen Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) als polytechnische Schule 1825 nach dem Vorbild der Ecole Polytechnique in Paris geschuldet. Das Polytechnikum entstand aus der Vereinigung verschiedener bereits existierender Ausbildungsstätten. 

Hierzu gehörte unter anderem die 1807 entstandene Ingenieurschule von Gottfried Tulla (1770-1828) und die von Friedrich Weinbrenner (1766-1826) seit 1800 geführte private Bauschule. Auch diese beiden Figuren aus der Karlsruher Stadtgeschichte haben bleibende Werte geschaffen. Man braucht ja beispielsweise bei Tulla auch nur an die Rheinbegradigung zu denken. Zudem hat das großherzogliche Haus Baden bis heute wirkende Wurzeln gelegt. Dass es hier auch andere Hochschulen gibt, wie etwa die Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft oder die Pädagogische Hochschule, wurde von den badischen Regenten gefördert. Und wenn man sich ansieht, was Karlsruhe auch im kulturellen Bereich alles zun bieten hat, von den Theatern und der Kunsthalle über die Kunstakademie bis zum Naturkundemuseum, so geht das unmittelbar darauf zurück, dass Baden bis 1871 ein eigenständiger Staat war und das Herrscherhaus alle auch kulturell wichtigen Funktionen in seiner Residenzstadt haben wollte.

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