Sasha Waltz malt mit tanzenden Körpern

Karlsruherin zählt zu den radikalsten Erneuerern des modernen Tanztheaters | Erobert mit Ensemble weltweit die Bühnen

Von Ute Bauermeister

Ein Gesamtkunstwerk, das alle Sinne anspricht
Die Solisten tanzen, das Orchester ist auf der Bühne und die Tänzer singen. In ihrer aktuellen Inszenierung der Monteverdi Oper „Orfeo“ hat die international gefeierte Choreografin Sasha Waltz zum sechsten Mal eine choreografische Oper erarbeitet, eine Symbiose aus Tanz, Musik, Gesang und Bühne, ein Gesamtkunstwerk, das alle Sinne anspricht. Sie ist eine mächtige Bilderfinderin, sie malt mit den Körpern der Tänzer und gruppiert deren Bewegungen zu erstaunlichen Bildern, die sich ins Gedächtnis brennen. Die Deutschlandpremiere von „Orfeo“ ist im Festspielhaus Baden-Baden. Mit 18 Jahren hat Sasha Waltz ihre Heimatstadt Karlsruhe verlassen und ging erst nach Amsterdam, um modernen Tanz zu studieren, dann nach Amerika, bevor sie sich in Berlin niederließ, wo sie seither lebt und arbeitet. Lange hat sie um höhere Zuschüsse für ihre berühmte Tanzkompanie gekämpft, um Anerkennung als feste Kulturinstitution. Die Hälfte ihres vier Millionen Etats muss sie selbst einspielen. Sie bekam die Mittel nicht zugesprochen und musste schweren Herzens ihr festes Tanzensemble auflösen. Ihre Tänzer kann sie nur noch projektbezogen engagieren. Dennoch halten ihr fast alle die Treue: Das Stück „Zweiland“von 1997 wird noch immer fast in der Originalbesetzung gespielt.

 Szene aus der choreografierten Oper "Orfeo"

Aufgewachsen ist Sasha Waltz in der Fächerstadt
1963 ist sie in Karlsruhe geboren, der Vater ein Architekt, die Mutter eine Galeristin. Zu Hause kommen sie und ihre Geschwister früh mit Kunst und Theater in Kontakt. „Ich habe mit fünf Jahren zu tanzen begonnen“, erinnert sich Sasha Waltz: „Meine Eltern haben mich zu der Tanzlehrerin Waltraut Kornhaas geschickt, die selbst eine Mary Wigman Schülerin war. Bei ihr hatte ich lange Unterricht. Sie hatte Bücher über Ausdruckstanz und über Pina Bausch.“ 1992 bekommt sie in Berlin ein Stipendium des Künstlerhauses Bethanien und erarbeitet ihre ersten „Dialoge“. Berlin steckt nach der Wende voll Energie und bietet Sasha Waltz den richtigen Schmelztiegel für ihre experimentellen und spartenübergreifenden Stücke.

„Jedes Stück hat mit meiner Biografie zu tun, weil ich nur dann etwas Tiefes erzählen kann“

Ein Jahr später gründet sie mit ihrem Ehemann, dem Kulturmanager und Dramaturgen Jochen Sandig, ihre eigene Tanzkompagnie Sasha Waltz & Guest. Mit der Travelogue- Trilogie touren sie durch Europa, Nordamerika und Kanada, Nomaden des Tanzes. Unermüdlich arbeitet Sasha Waltz an neuen Stücken und kitzelt aus ihren Tänzern in einem sehr persönlichen Arbeitsprozess alles heraus. Viele schätzen ihren sensiblen Umgang mit existentiellen Themen. Doch die Tänzer müssen auch einiges aushalten: Sie hangeln sich an schmalen Balustraden in Schwindel erregender Höhe entlang und demonstrieren immer wieder die Möglichkeit, verletzlich zu sein. Das Thema „Körper“ hat Sasha Waltz in einer Trilogie erkundet, erst sachlich, dann erotisch und schließlich metaphysisch. „Jedes Stück hat mit meiner Biografie zu tun, weil ich nur dann etwas Tiefes erzählen kann“, sagt sie. Die Geburten ihrer beiden Kinder, Laszlo im Jahre 1997 und Sophia 2001, haben die Choreografin ebenso stark geprägt wie der Tod ihrer Mutter. Danach erarbeitet sie „Nobody“, das dritte Stück der Körper-Trilogie, indem sie den Prozess des Loslassens und Abschiednehmens erforscht.

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Menschliche Körper hängen in der Luft: Szene aus einer Choreografie im ZKM.

Sasha Waltz lässt sich von Räumen inspirieren
1996 gründete Sasha Waltz in Berlin die Sophiensäle, eine spartenübergreifende Produktions- und Spielstätte in freier Trägerschaft. Bei der Renovierung packt sie selbst mit an und radelt von einem Flohmarkt zum nächsten auf der Suche nach passenden Requisiten. Mit dem Eröffnungsstück „Allee der Kosmonauten“ über den trostlosen Alltag in einer Plattenbausiedlung gelingt ihr der internationale Durchbruch. Seither gilt sie weltweit als eine der wichtigsten zeitgenössischen Choreografen und als spannendste Erneuerin des Tanztheaters seit Johann Kresnik und Pina Bausch. Für Sasha Waltz sind echte, materielle Räume Inspirationsquellen, sie tanzte 

mit ihrer Kompagnie im Palast der Republik, bevor der abgerissen wurde, in dem von Daniel Liebeskind gebauten Jüdischen Museum und zur Eröffnung des von David Chapperfield umgebauten Neuen Museum. Sie tritt mit diesen Räumen in einen intensiven Dialog und bespielt, ja vereinnahmt sie auf einzigartige Weise, so auch das Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM).

Großartige Ausstellung im ZKM zum 50. Geburtstag von Sasha Waltz
Lassen sich Choreografien ausstellen? Körper, die liegen oder hängen, die sich wälzen, sich aneinander vorbei und übereinander hinweg bewegen und das alles mit minimalen Bewegungen: Tanz als eine Feier der Emotionen, des Körpers, des Erinnerns, der Bindung und Familie. Tanz als Ganzes. Tanz im Museum, das geht großartig, wie Sasha Waltz mit ihrer Kompagnie in einer Sonderausstellung im ZKM gezeigt hat. ZKM-Chef Peter Weibel wollte eine Ausstellung mit und über Sasha Waltz machen. Anlass war der 50. Geburtstag dieser außergewöhnlichen Frau. „Das Thema Körper ist gerade auch für Jugendliche, die in einer immateriellen Cyberwelt aufwachsen, eine wichtige Erfahrung“, weiß Peter Weibel, der die Arbeit von Sasha Waltz sehr schätzt. „Es gibt neue Tendenzen, die man unter dem Begriff performative Wende zusammenfasst”, erklärt er. „Die Ausstellung wird zur Aufführung, die Aufführung wird zur Ausstellung. Sasha Waltz macht das schon lange und am radikalsten.“

Sasha Waltz wurde in Karlsruhe geboren.

Bewegende, berührende Bilder
60.000 Besucher haben sich von den Installationen und Live-Performances begeistern lassen. Dicht gedrängt standen die Menschen bei der Eröffnungsperformance „Cloud“, als ein weißer Stoff ballonartig aufgeplustert und von einer Tänzerin umrundet wurde, die ihn in Schach hielt, sich entlang hangelte oder von ihm nach oben tragen ließ, ein erstaunliches Bild für das Wachsen, den Wechsel und die Zeit. Kopfüber hingen die Tänzer in Seilen von der Decke, mit enormer Körperspannung die Balance suchend und haltend. Andere Tänzer robbten über den Boden, waren an den Haaren miteinander verknäult oder streckten ihre Hände und Arme wie Ertrinkende aus Klappläden. Ein Fries wurde plötzlich lebendig. Überall begegneten einem signifikante, berührende Bilder.

"... wenn wir uns wirklich berühren lassen, dann ist der Kontakt mit dem Publikum auch wirklich.“

„Ich war sehr glücklich über die Ausstellung und den Erfolg. Es war für mich auch eine spannende Zeitreise, ich habe ja mein Archiv durchforstet und geöffnet und die vergangenen 20 Jahre meiner Arbeit präsentiert. Wir haben die Exponate und Stücke speziell auf die Räumlichkeiten zugeschnitten“, erzählt Waltz. Beim Tanzen geht alles über Berührung. Doch die Ausstellung ist nur eines von vielen Projekten, an denen Sasha Waltz arbeitet. Sie ist weltweit viel unterwegs, gibt Interviews in Australien, Gastspiele unter anderem in Sidney, Brüssel, Mailand, Paris, Südkorea und Salzburg. Ihre Choreografien überraschen und berühren, sind sensibel, authentisch und zeitnah. Sie mutet sowohl den Tänzern als auch den Zuschauern einiges zu: ein abknickendes Körperglied, ein unvermitteltes an der Wand hängen, über das Sofa springen, an einem Brett hinaufklettern oder am nackten Bauch hoch gehoben werden. Körper, die sich in eine Art Aquarium zwängen, die sich zu zweit in eine Jacke quetschen, sich ziehen, schweben, balancieren und immer wieder berühren. Manchmal wirken ihre Choreografien wie unter Zeitlupe und haben gerade deshalb eine magische Kraft, ein ganz großes Gewicht. „Beim Tanzen findet über die Berührung alles statt, über Wärme, Intensität und Gewicht. Es geht aber auch um die Berührung des Publikums. Wir berühren es dadurch, dass wir unsere Körper berühren, wenn wir uns wirklich berühren lassen, dann ist der Kontakt mit dem Publikum auch wirklich“, erläutert Sasha Waltz. Mit Peter Weibel ist ein weiteres gemeinsames Projekt in Planung. „Es soll etwas ganz Neues für Karlsruhe sein“, meint Waltz, die nach wie vor gerne in ihre Heimatstadt kommt und sich im Europabad eine kleine Auszeit vom Trubel gönnt.

In der zweiten Jahreshälfte 2015 sind Aufführungen von Sasha Waltz unter anderem im Festspielhaus Baden-Baden und an der Staatsoper im Schillertheater, Berlin, zu erleben. Informationen zu aktuellen Projekten gibt die Künstlerin auf ihrer Internetseite.
www.sashawaltz.de
www.zkm.de