Karlsruhe – Die Stadt der Zukunft

Essay von Peter Weibel

Das Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (ZKM) hat zum 300. Geburtstag Karlsruhes ein neues Ausstellungsformat entwickelt: Die GLOBALE steht bis 2016 im Zeichen der zukunftsweisenden Allianz von Wissenschaft und Kunst. Aus Anlass der GLOBALE beleuchtet der Chef des ZKM, Peter Weibel, eine Megaherausforderung unserer Zeit: Den Umgang mit dem ständig und immer schneller zunehmenden Wissen. Und er spannt einen Bogen zu den Beiträgen Karlsruhes zur weltweiten Wissensgesellschaft – in Vergangenheit und Zukunft. Die Fächerstadt sei ein vielversprechender Ort für den Wissens- und Kreativbürger der Zukunft, sagt Weibel.

„Ohne Wissen gibt es keinen mündigen Bürger und ohne mündige Bürger keine Demokratie“, so Weibel

Unsere moderne digitale Gesellschaft zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Menge an produzierten und distribuierten Daten enorm zugenommen hat. Quantifizierung, wie sie heute durch die IT-Technologie ermöglicht wird, bedeutet die Verwandlung von Objekten und Ereignissen in Daten. Infolgedessen verändert sich die Welt von einem „Small Data“-Environment hin zu einem „Big Data“-Environment. Die digitale Gesellschaft ist also eine Gesellschaft von hoher Datenkomplexität. Dieser fundamentale gesellschaftliche Wandel etwa seit dem Jahr 2000 lässt sich an zwei Formeln verdeutlichen. War die bisherige moderne Welt dominiert von der Gleichung „Maschinen, Material und Menschen“ (Frank Lloyd Wright, 1930), so wird die aktuelle und künftige Welt von der zusätzlichen Gleichung „Medien, Daten und Menschen“ bestimmt.

Wissensgesellschaft mit Demokratieproblem
In der digitalen Gesellschaft akkumuliert sich das Wissen auf beschleunigte Weise. Jede Minute auf dieser Welt entsteht eine neue Formel. Alle drei Minuten wird eine neue Erkenntnis über diese Welt in Physikzeitschriften veröffentlicht, alle fünf Minuten werden in medizinischen Zeitschriften neue Erkenntnisse publiziert. Google prozessiert täglich drei Milliarden Suchanfragen. Täglich werden sieben Milliarden Aktien an der Börse gehandelt. Jeder Mensch verarbeitet heute bereits 300 Mal mehr Informationen als in der Bibliothek von Alexandria, die das gesamte Wissen der klassischen Antike enthielt, gespeichert waren. Heute ist das gesamte Wissen der Welt zu 98 Prozent digital gespeichert, mittlerweile mehr als 1.200 Exabytes. Das heißt, das kollektive gesellschaftliche Wissen, das in materieller Form in verschiedenen Datenträgern abgespeichert ist, verdoppelt sich etwa alle fünf Jahre. Für diese neue Form der Produktion und der Verteilung von Wissen bedarf es cleverer Konzepte. Rechnet man hoch, dass heute nicht nur innerhalb von Firmen lediglich die Hälfte des vorhandenen Wissens genutzt wird, sondern dass im Grunde nur zehn Prozent des gespeicherten Wissens in Deutschland aktualisiert wird und dass das gesamte gespeicherte Wissen nur von etwa zehn Prozent der Menschen genutzt wird, dann sehen wir das Demokratieproblem der Wissensgesellschaft.

"War die bisherige moderne Welt dominiert von der Gleichung „Maschinen, Material und Menschen“ (Frank Lloyd Wright, 1930), so wird die aktuelle und künftige Welt von der zusätzlichen Gleichung „Medien, Daten und Menschen“ bestimmt."

"Karlsruhe ist ein ielversprechender Ort für den Wissens-und Kreativbürger der Zukunft."

Da es ohne Wissen jedoch keinen mündigen Bürger gibt und ohne mündige Bürger keine Demokratie möglich ist, sollte die Mehrheit der Menschen an der Wissensproduktion und -rezeption teilhaben. Die Stadt Karlsruhe, die in diesem Jahr 300 jähriges Jubiläum feiert und sich in ihrer jungen Geschichte zu einer vorbildlichen „Gelehrtenrepublik“ entwickelt hat, ist in diesem Sinne ein vielversprechender Ort für den Wissens-und Kreativbürger der Zukunft. Menschen aus ganz Deutschland kommen nach Karlsruhe, um am KIT (Karlsruher Institut für Technologie), der Akademie der Künste, der Hochschule für Musik oder der Hochschule für Gestaltung zu studieren. Oder sie wollen im Kreativpark „Alter Schlachthof“ ihr Startup-Unternehmen gründen.

Musterstadt für Bürgerrechte, Künste und Wissenschaften
So wie die historische Entwicklung des jungen Karlsruhe von demokratisch-liberalem Gedankengut, der Kultur-Affinität des Karlsruher Herrscherhauses sowie der Zukunftsoffenheit der Karlsruher Bürgerschaft tief geprägt ist, so sind auch einige wichtige Erfindungen in Karlsruhe entstanden, welche die moderne Weltgeschichte massiv beeinflusst haben. Beispielhaft wurden die Medien der materiellen und immateriellen Mobilität weiterentwickelt: 1886 patentierte Carl Benz das Automobil und im selben Jahr bewies Heinrich Hertz mit seinen Funkexperimenten die Existenz der elektromagnetischen Wellen, die erstmals die Übertragung einer Nachricht von einem Sender zu einem Empfänger ermöglichten. Die gesamte telematische Zivilisation des drahtlosen Funkverkehrs (Radio, TV, Internet, Mobilfunk) verdankt sich dieser Erfindung. Auch Ferdinand von Braun, der Erfinder der Braunschen Röhre, wirkte in Karlsruhe.

"Die informierte Gesellschaft"
Viele wissenschaftliche Koryphäen wie die Chemie-Nobelpreisträger Fritz Haber (1918) und Richard Willstätter (1915) sind in Karlsruhe geboren oder waren hier tätig. Heute gilt Karlsruhe als eine der führenden Internetstädte Deutschlands – auch deshalb, weil die erste E-Mail Deutschlands in Karlsruhe empfangen wurde. Bereits 1966 publizierte der Karlsruher Wissenschaftler Karl Steinbuch das Werk „Die informierte Gesellschaft“. Karlsruhe gehört also zu den Gründerstädten der Wissensgesellschaft und Informationstechnologie. Im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie steht Karlsruhe in Europa nach München, London und Paris an vierter Stelle.

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Dynamische Zukunftsstadt
Die im 19. Jahrhundert fortschrittlich errichtete Bildungslandschaft ist ein unverzichtbares Fundament der Stadt. Karlsruhe gilt als Hauptstadt der Bildungsrepublik Deutschland (BRD). Sie weist heute eine weitaus höhere Dichte an Hochschulen auf als Städte mit vergleichbarer Größenordnung: Die nach dem Pariser Vorbild 1825 gegründete Polytechnische Hochschule, das heutige KIT, ist die erste ihrer Art in Deutschland und wurde zum prägenden Vorbild für die Eidgenössische Polytechnische Hochschule in Zürich (ETH). Das KIT, das aus dem Zusammenschluss der Technischen Universität Karlsruhe und dem Forschungszentrum 2009 hervorging, ist mit seiner Vereinigung von Lehre und Forschung ein einzigartiges wissenschaftspolitisches Experiment und zählt zu den ersten Exzellenzuniversitäten Deutschlands. In Karlsruhe
wird das Verhältnis von Kunst, Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft unablässig neu verhandelt.

Die Fächerstadt bietet mit insgesamt neun Hochschulen, der Staatlichen Kunsthalle, dem Badischen Landesmuseum, der Städtischen Galerie, dem Badischen Kunstverein und dem ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie) sowie einer vielfältigen Theaterlandschaft einen dichten Bereich gelebter Kultur, der sich durch Ideen und Dynamik auszeichnet. Aus diesem Grund wurde am ZKM ein innovatives Kunstformat entwickelt. Dieses neue Kunstereignis im digitalen Zeitalter, die GLOBALE, findet vom 19. Juni 2015 bis 17. April 2016 in Karlsruhe statt und steht ganz im Zeichen der zukunftsweisenden Allianz von Wissenschaft und Kunst.

www.zkm.de

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